Das Europarecht bildet das rechtliche Fundament der Europäischen Union und prägt maßgeblich die Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten. Als überstaatliches Rechtssystem regelt es nicht nur die Beziehungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten, sondern schafft auch unmittelbare Rechte und Pflichten für deren Bürger. In diesem Artikel erhalten Sie einen strukturierten Überblick über die Grundlagen, Quellen und Wirkungsweise des Europarechts sowie dessen Bedeutung für die europäische Integration.
Europarecht: Grundlage der europäischen Integration
Definition und Geltungsbereich des Europarechts
Unter Europarecht im weiteren Sinne versteht man das Recht aller europäischen internationalen Organisationen. Dazu gehören neben dem Recht der Europäischen Union auch das Recht des Europarats (insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention), der EFTA, der OECD und der OSZE. Als eigenständiges Rechtsgebiet hat sich jedoch das Europarecht „im engeren Sinne“ etabliert, womit das Recht der Europäischen Union gemeint ist.
Das Unionsrecht zeichnet sich durch seine Supranationalität aus – es steht über dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten und kann unmittelbare Rechtswirkungen entfalten. Diese Besonderheit unterscheidet das EU-Recht von klassischem Völkerrecht und macht es zu einer eigenständigen Rechtsordnung.

Die Supranationalität als Kernmerkmal des Europarechts
Das Europarecht wird nach seinem Rang in drei Kategorien eingeteilt:
- Primärrecht: Die Gründungsverträge und gleichrangige Rechtsquellen
- Sekundärrecht: Von den EU-Organen erlassene Rechtsakte
- Tertiärrecht: Auf Ermächtigungen im Sekundärrecht gestütztes Recht
Diese Rangordnung ist von praktischer Bedeutung, da das Primärrecht den Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit des Sekundärrechts bildet und das Sekundärrecht wiederum für das Tertiärrecht. Sowohl unionale als auch nationale Behörden und Gerichte sind verpflichtet, diese Hierarchie zu beachten.
Das Primärrecht der Europäischen Union
Das Primärrecht bildet die „Verfassung“ der Europäischen Union und steht an der Spitze der Normenhierarchie. Es umfasst verschiedene Rechtsquellen, die in ihrem Rang und Charakter einheitlich sind.
Die Verträge als Grundlage
Seit dem Vertrag von Lissabon (in Kraft seit 1. Dezember 2009) besteht das Primärrecht hauptsächlich aus:
- Dem Vertrag über die Europäische Union (EUV)
- Dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
- Der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh)
- Den Protokollen und Anhängen zu den Verträgen

Die Struktur des EU-Primärrechts
Die Verträge beruhen auf völkerrechtlichen Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten und können im ordentlichen Verfahren nur durch solche geändert werden (Art. 48 Abs. 4 EUV). Auch Änderungen im vereinfachten Verfahren können nicht gegen den Willen der Mitgliedstaaten und ihrer Parlamente erfolgen.
Allgemeine Rechtsgrundsätze
Zum Primärrecht gehören auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, denen diese Qualität zukommt, insbesondere:
- Die neben der EU-Grundrechtecharta fortbestehenden Unionsgrundrechte
- Rechtsstaatliche Prinzipien (Art. 6 Abs. 3 EUV)
- Vom EuGH entwickelte Strukturprinzipien (z.B. Vorrang des Unionsrechts)
Diese ungeschriebenen Rechtsgrundsätze haben der Europäische Gerichtshof (EuGH) in richterlicher Rechtsfortbildung entwickelt. Sie umfassen grundlegende Prinzipien wie Verhältnismäßigkeit, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz.
„Das Primärrecht enthält die grundlegenden Regelungen über die Funktionsweise der Europäischen Union. Der Europäische Gerichtshof sprach wegen der funktionellen Ähnlichkeit des Primärrechts mit nationalen Verfassungen wiederholt auch von der ‚Verfassungsurkunde der Gemeinschaft‘.“
Die historische Entwicklung des Primärrechts
Das Primärrecht hat sich durch mehrere Vertragsrevisionen entwickelt:
- Die Gründungsverträge: EGKS (1951), EWG und Euratom (1957)
- Die Einheitliche Europäische Akte (1986)
- Der Vertrag von Maastricht (1992) – Gründung der EU
- Der Vertrag von Amsterdam (1997)
- Der Vertrag von Nizza (2001)
- Der Vertrag von Lissabon (2007)
Die grundlegendste Vertragsänderung war die Gründung der Europäischen Union im Vertrag von Maastricht. Der Vertrag von Lissabon führte schließlich zur Verschmelzung der Europäischen Union mit der Europäischen Gemeinschaft, nicht jedoch mit der Europäischen Atomgemeinschaft.
Das Sekundärrecht: Rechtsakte der EU-Organe
Das Sekundärrecht umfasst alle von den Organen der EU nach Maßgabe der Verträge erlassenen Rechtsakte. Es wird auch als „abgeleitetes Recht“ bezeichnet, da es auf Grundlage des Primärrechts entsteht und diesem hierarchisch untergeordnet ist.
Arten von Rechtsakten
Gemäß Art. 288 AEUV kennt das Europarecht folgende Arten von Rechtsakten:

Übersicht der Sekundärrechtsakte mit Beispielen
Verordnungen (VO)
Die Verordnung hat gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV allgemeine Geltung, ist in allen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Sie regelt eine unbestimmte Vielzahl von Sachverhalten generell und abstrakt und erfüllt damit die materiellen Bedingungen eines Gesetzes.
Wichtige Merkmale der Verordnung:
- Unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten ohne Umsetzungsakt
- Durchgriffswirkung auf die Rechtsunterworfenen
- Anwendungsvorrang vor entgegenstehendem nationalen Recht
Beispiele für bedeutende EU-Verordnungen sind die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die Lebensmittelinformations-Verordnung (LMIV) oder die Fusionskontrollverordnung.
Richtlinien (RL)
Die Richtlinie unterscheidet sich von der Verordnung dadurch, dass sie der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten bedarf. Sie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel (Art. 288 Abs. 3 AEUV).
Besonderheiten der Richtlinie:
- Gestufte Verbindlichkeit (Umsetzungsbedürftigkeit)
- Umsetzungsfrist für die Mitgliedstaaten
- Mögliche unmittelbare Wirkung bei Nichtumsetzung
- Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts
Bekannte Beispiele sind die Dienstleistungs-Richtlinie, die Verbraucherrechte-Richtlinie oder die Umweltverträglichkeitsprüfungs-Richtlinie.
Beschlüsse
Der aus dem Verfassungsvertrag übernommene Begriff „Beschluss“ (Art. 288 Abs. 4 AEUV) fasst unterschiedliche Handlungsformen zusammen. Gemeinsam ist allen Beschlüssen die Verbindlichkeit in allen ihren Teilen. Sie können an bestimmte Adressaten gerichtet sein (z.B. Mitgliedstaaten oder Unternehmen) oder adressatenlos ergehen.
Empfehlungen und Stellungnahmen
Diese sind gemäß Art. 288 Abs. 5 AEUV nicht verbindlich. Sie bedürfen wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung dennoch einer Kompetenzgrundlage in den Verträgen und haben politische Wirkungen. Sie sind bei der Auslegung nationaler Rechtsvorschriften zu berücksichtigen.
Das Gesetzgebungsverfahren
Die Gesetzgebungsinitiative kommt grundsätzlich der Europäischen Kommission zu (Art. 17 Abs. 1 S. 1 EUV). „Gesetzgeber“ der EU sind das Europäische Parlament und der Rat. Im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art. 294 AEUV) wirken diese gleichberechtigt zusammen.

Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren der EU
Besondere Gesetzgebungsverfahren sind das Zustimmungsverfahren und das Anhörungsverfahren, bei denen das Europäische Parlament unterschiedlich stark eingebunden ist.
Das Tertiärrecht
Als Tertiärrecht wird auf Ermächtigungen im Sekundärrecht gestütztes Recht bezeichnet. Gemäß Art. 290 AEUV kann in Gesetzgebungsakten der Kommission die Befugnis erteilt werden, „Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung“ zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften zu erlassen.
Diese delegierten Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte (Art. 291 AEUV) spielen eine wichtige Rolle bei der technischen Ausgestaltung und Umsetzung des EU-Rechts. Die Wahrnehmung dieser Durchführungsbefugnisse durch die Kommission obliegt den Mitgliedstaaten gemäß der sogenannten Komitologie-Verordnung über von diesen besetzte Ausschüsse.

Die Normenhierarchie im Europarecht
Der Europäische Gerichtshof (EuGH)
Der Europäische Gerichtshof spielt eine zentrale Rolle für die Entwicklung und Durchsetzung des Europarechts. Er sichert die einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten.
Aufgaben und Zuständigkeiten
Der EuGH ist zuständig für:
- Die Überprüfung von Rechtsakten des Sekundärrechts am Primärrecht
- Die Überprüfung des Rechts der Mitgliedstaaten am Europarecht
- Die Auslegung des Unionsrechts im Vorabentscheidungsverfahren
- Die Entscheidung über Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten

Die prägende Rolle des EuGH für nationales Recht
Richterliche Rechtsfortbildung
Der EuGH hat sich bei der Erfüllung seiner Aufgaben nicht auf eine Auslegung des Primärrechts beschränkt, sondern im Wege richterlicher Rechtsfortbildung einen wesentlichen Beitrag zur Rechtsordnung der Europäischen Union geleistet. Bedeutende Grundsatzentscheidungen waren:
- Van Gend & Loos (1963): Unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts
- Costa/ENEL (1964): Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht
- Stauder (1969): Entwicklung gemeinschaftlicher Grundrechte
Diese und andere Entscheidungen haben maßgeblichen Einfluss auf die Eigenart des Europarechts ausgeübt und rechtfertigen es, in gewissen Bereichen von einer Case-law-Rechtsordnung zu sprechen.
Das Vorabentscheidungsverfahren
Das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) ist ein zentrales Instrument zur Sicherung der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts. Es ermöglicht nationalen Gerichten, dem EuGH Fragen zur Auslegung des Unionsrechts oder zur Gültigkeit von Unionsrechtsakten vorzulegen.
Letztinstanzliche Gerichte sind zur Vorlage verpflichtet, wenn die Beantwortung der unionsrechtlichen Frage für ihre Entscheidung erheblich ist und die Lösung nicht offensichtlich ist (acte clair) oder vom EuGH bereits entschieden wurde (acte éclairé).

Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV
Das Verhältnis zum nationalen Recht
Das Verhältnis zwischen Europarecht und nationalem Recht ist durch zwei wesentliche Prinzipien geprägt: den Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die unmittelbare Wirkung bestimmter Unionsrechtsakte.
Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts
Das EU-Recht hat im Fall einer Kollision mit dem Recht der Mitgliedstaaten Vorrang vor diesem mit der Folge, dass das nationale Recht insoweit nicht angewendet werden darf. Dieses Prinzip wurde vom EuGH im grundlegenden Urteil Costa/ENEL (Rs. 6/64) entwickelt.

Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts
Der EuGH begründet den Vorrang damit, dass andernfalls die Funktionsfähigkeit der EU gefährdet wäre. Der Anwendungsvorrang wird von den (Verfassungs-)Gerichten der Mitgliedstaaten, abgesehen von verfassungsrechtlichen Restvorbehalten, anerkannt.
Die unmittelbare Wirkung
Bestimmte Normen des Unionsrechts können unmittelbare Wirkung entfalten, d.h. sie begründen ohne weiteren Umsetzungsakt Rechte und Pflichten für die Bürger der Mitgliedstaaten. Voraussetzungen für die unmittelbare Wirkung sind:
- Die Norm muss hinreichend bestimmt und unbedingt sein
- Bei Richtlinien: Die Umsetzungsfrist muss abgelaufen sein
- Bei Richtlinien: Keine Verpflichtung eines Individuums gegenüber dem Staat oder einem anderen Individuum
Die unmittelbare Wirkung wurde vom EuGH erstmals im Urteil Van Gend & Loos für Bestimmungen des EWG-Vertrags anerkannt und später auf andere Rechtsakte ausgedehnt.
Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung
Nationale Gerichte und Behörden sind verpflichtet, das nationale Recht im Lichte des Wortlauts und des Zwecks von Richtlinien auszulegen, um das von der Richtlinie vorgegebene Ziel zu erreichen. Diese Pflicht besteht unabhängig davon, ob die betreffende Bestimmung der Richtlinie unmittelbare Wirkung entfaltet.

Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts
Materielles Europarecht: Die Politikbereiche der EU
Unter materiellem Europarecht versteht man die Normen, die die sachlichen Zielsetzungen der Union und die ihr für deren Realisierung übertragenen Kompetenzen betreffen. Wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 EUV) sind diese erschöpfend in den Verträgen aufgeführt.
Der Europäische Binnenmarkt
Kernstück der EU ist nach wie vor der Europäische Binnenmarkt als Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist (Art. 26 Abs. 2 AEUV).

Die vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts
Die Grundfreiheiten haben durch die Rechtsprechung des EuGH unmittelbare Wirkung erlangt und können von den Unionsbürgern vor nationalen Gerichten geltend gemacht werden. Zur Verwirklichung des Binnenmarkts trägt neben der gegenseitigen Anerkennung auch die Harmonisierung durch Sekundärrecht bei.
Die Unionsbürgerschaft
Durch die mit dem Vertrag von Maastricht eingeführte Unionsbürgerschaft (Art. 9 EUV, Art. 20 AEUV) erhielten die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten von der wirtschaftlichen Betätigung unabhängige besondere Rechte, insbesondere:
- Das Recht auf Freizügigkeit (Art. 21 AEUV)
- Das Wahlrecht bei Europawahlen und Kommunalwahlen im Aufenthaltsstaat (Art. 22 AEUV)
- Das Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art. 23 AEUV)
- Das Petitionsrecht zum Europäischen Parlament (Art. 24 AEUV)
Der EuGH hat die Unionsbürgerschaft als „grundlegenden Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten“ bezeichnet und ihr eine weitreichende Bedeutung zugemessen.
Weitere wichtige Politikbereiche
Wettbewerbspolitik
Das Wirtschaftssystem der EU beruht auf einem Binnenmarkt als System, „das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Die EU verfügt über Kompetenzen im Kartellrecht (Art. 101, 102 AEUV) und im Beihilfenrecht (Art. 107-109 AEUV).
Sozialpolitik
Obwohl „die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen“ ein wesentliches Ziel der EU ist, konnte sich die Sozialpolitik auf Unionsebene wegen der begrenzten Kompetenzen der EU nur eingeschränkt entfalten.
Gemeinsame Agrarpolitik
Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) war ein „Eckpfeiler des europäischen Einigungswerks“ und beansprucht nach wie vor einen erheblichen Teil des EU-Haushalts. Sie unterliegt ständigen Reformbemühungen.
Umweltpolitik
Die Umweltpolitik der EU zielt darauf ab, die Umwelt zu erhalten, zu schützen und ihre Qualität zu verbessern. Grundsätze sind das Vorsorgeprinzip, das Prinzip der Bekämpfung am Ursprung und das Verursacherprinzip.

Aktuelle Entwicklungen im Europarecht
Die Durchführung des Europarechts
Gemäß Art. 291 Abs. 1 AEUV ergreifen die Mitgliedstaaten alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht. Dieses Prinzip wird auch als „indirekter Vollzug“ bezeichnet und ist der Regelfall.
Die Umsetzung von Richtlinien
Bei der Umsetzung von Richtlinien müssen die Mitgliedstaaten die durch die Richtlinie vorgegebenen Ziele in nationales Recht umsetzen. Der EuGH hat zur Sicherstellung der praktischen Wirksamkeit strenge Anforderungen an die Umsetzung gestellt:
- Der Umsetzungsakt muss die Qualität einer verbindlichen Rechtsnorm haben
- Bloße Verwaltungspraxis oder Verwaltungsvorschriften genügen nicht
- Die Umsetzung muss fristgerecht erfolgen
- Eigenmächtige, in der Richtlinie nicht vorgesehene Abweichungen sind unzulässig

Der Umsetzungsprozess von EU-Richtlinien
Der Vollzug von Verordnungen
EU-Verordnungen gelten unmittelbar in den Mitgliedstaaten und bedürfen keiner Umsetzung. Dennoch können ergänzende nationale Maßnahmen erforderlich sein, etwa:
- Die Bestimmung zuständiger Behörden
- Die Schaffung von Sanktionsmechanismen
- Die Regelung von Verfahrensfragen
Die Mitgliedstaaten dürfen dabei keine Maßnahmen ergreifen, die eine Änderung der Tragweite einer Verordnung oder eine Ergänzung ihrer Vorschriften zum Gegenstand haben.
Die Rolle der nationalen Gerichte
Da der Vollzug des Unionsrechts hauptsächlich den Mitgliedstaaten obliegt, ist die Wahrung des Unionsrechts in erheblichem Umfang auch eine Aufgabe der nationalen Gerichte. Diese müssen:
- Das Unionsrecht anwenden und ihm Vorrang vor entgegenstehendem nationalen Recht einräumen
- Nationales Recht unionsrechtskonform auslegen
- Bei Auslegungsfragen ggf. den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren anrufen
Diese Verpflichtung ergibt sich für die Gerichte als Organe der Mitgliedstaaten aus deren Unterstützungs- und Erfüllungspflicht (Loyalitätsgebot des Art. 4 Abs. 3 EUV).
Die Außenbeziehungen der EU
Soweit die Völkerrechtssubjektivität der EU (Art. 47 EUV) von Drittstaaten und Internationalen Organisationen anerkannt wird und ihr die Verträge entsprechende Kompetenzen verleihen, kann die EU eine eigene Außenpolitik betreiben.
Völkerrechtliche Verträge der EU
Die EU kann völkerrechtliche Verträge mit Drittstaaten schließen. Diese Verträge sind gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV für die Organe der EU und für die Mitgliedstaaten verbindlich. Sie bilden einen „integrierenden Bestandteil“ der Unionsrechtsordnung.

Völkerrechtliche Verträge der EU mit Drittstaaten
Besonders bedeutsam sind von der EU geschlossene Handelsabkommen, da die EU für die Gemeinsame Handelspolitik gemäß Art. 207 AEUV die ausschließliche Kompetenz hat. Soweit die in solchen Verträgen geregelten Materien nicht von dieser Kompetenz erfasst sind, ist ein sogenanntes gemischtes Abkommen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten einerseits und den Drittstaaten andererseits erforderlich.
Die Beziehung zur EMRK
Gemäß Art. 6 Abs. 2 EUV soll die EU der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beitreten. Der Beitritt wird jedoch durch das Gutachten 2/13 des EuGH blockiert, das den ausgehandelten Beitrittsvertrag für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärte.
Bereits jetzt hat die EMRK für das EU-Recht aber große Bedeutung:
- Sie ist Rechtserkenntnisquelle für die Entwicklung der allgemeinen Rechtsgrundsätze (Art. 6 Abs. 3 EUV)
- Rechte der EU-Grundrechtecharta, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, haben die gleiche Bedeutung und Tragweite (Art. 52 Abs. 3 GRCh)
- Die Mitgliedstaaten sind als Vertragsparteien der EMRK an diese auch beim Vollzug des Unionsrechts gebunden

Das Verhältnis zwischen EU-Grundrechtecharta und EMRK
Ausblick: Die Zukunft des Europarechts
Die Zukunft des Europarechts hängt von der weiteren Entwicklung der EU ab. Verschiedene Szenarien sind denkbar, von einer vertieften Integration bis hin zu einem „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“.
Wahrscheinlich ist in vielen Bereichen eine verstärkte Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, die sich daran beteiligen wollen, wie die am 11.12.2017 von 25 Mitgliedstaaten beschlossene Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) im Verteidigungsbereich.

Mögliche Entwicklungspfade des Europarechts
Aktuelle Herausforderungen für das Europarecht sind unter anderem:
- Die Bewältigung der Folgen des Brexit
- Die Rechtsstaatlichkeitskrise in einigen Mitgliedstaaten
- Die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion
- Die Digitalisierung und Regulierung neuer Technologien
- Die Umsetzung des European Green Deal
Im Übrigen werden wohl die in den Verträgen enthaltenen Kompetenzen so weit wie möglich ausgenutzt, da der Vertrag von Lissabon gezeigt hat, wie schwierig eine generelle Vertragsänderung durchzusetzen ist.
Fazit
Das Europarecht hat sich zu einer eigenständigen, supranationalen Rechtsordnung entwickelt, die maßgeblichen Einfluss auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ausübt. Seine besondere Stellung zeigt sich im Anwendungsvorrang vor nationalem Recht und in der unmittelbaren Wirkung bestimmter Normen.
Die Dynamik des Europarechts wird wesentlich durch die Rechtsprechung des EuGH geprägt, der durch richterliche Rechtsfortbildung zentrale Prinzipien entwickelt hat. Gleichzeitig bleibt das Europarecht ein „work in progress“, das sich mit den Herausforderungen der europäischen Integration weiterentwickelt.

Europarecht als dynamische Rechtsordnung
Für Juristen, Studierende und alle, die mit europarechtlichen Fragen konfrontiert sind, bleibt es unerlässlich, die Grundstrukturen des Europarechts zu verstehen und seine Entwicklung aufmerksam zu verfolgen.
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